Celda 211 (Filmkritik)

„Celda 211“ ist ein moderner Film des spanischen Kinos. Kamera und Montage erinnern an Hollywood-Blockbuster, und auch der Handlungsablauf könnte aus einem aktuellen amerikanischen Action-Film stammen. Eine einfache Zusammenfassung der Handlung wäre: Häftlinge in einem Gefängnis randalieren, und das Gefängnispersonal muss versuchen, die Wogen zu glätten oder im Notfall gewaltsam einzugreifen.

Das wäre eine platte, leicht konsumierbare Handlung, wäre da nicht Juan Oliver mit im Spiel: ein Mann, dessen Frau hochschwanger ist (ganz à la Hollywood). Allerdings ist er zur falschen Zeit am falschen Ort. Eigentlich wollte er morgen erst seinen Dienst als Gefängniswärter antreten, aber er entscheidet sich zu einem Rundgang durch die Gefängnisanlage. Nach einem Unfall findet er sich wieder in einem Aufstand von gröhlenden Häftlingen, die randalierend die Macht über den Zellenbereich an sich reißen und drei Geiseln nehmen, um deutlich verbesserte Haftbedingungen zu erpressen.

Fortan weiß Juan: Er muss sich um jeden Preis bei den Häftlingen als einer der ihren darstellen. Dafür muss er dem furchteinflößenden Anführer der Häftlinge, Malamadre („schlechte Mutter“) genannt, glaubhaft machen, dass er ein verurteilter Mörder ist, und sich von ihm bloßstellen lassen. Schnell gewinnt er dessen Vertrauen und den wenig schmeichelhaften Spitznamen „Gürkchen“ (im spanischen Original „Calzones“ = Boxershorts).

Ein Balanceakt beginnt: Einerseits darf er unter den Gangstern nicht als Auswärtiger auffallen, andererseits muss er versuchen, seinen Wärterkollegen wichtige Tipps mitzugeben. Einige Häftlinge trauen ihm nicht, während Malamadre immer mehr Sympathie für ihn gewinnt – erst recht, als er die Geschichte von Juans schwangerer Frau erfährt. Diese erfährt in den Medien von der Revolte. Besorgt fährt sie zum Gefängnis, wo die Lage bereits am Eskalieren ist…

GRENZÜBERSCHREITUNG UND KONTROLLVERLUST

In dem Film verwischen die Grenzen zwischen Gut und Böse: Juan, ein liebender Mann und baldiger Familienvater, überschreitet in seiner Notlage Grenzen. Malamadre, der anfänglich wie die Personifikation des Bösen wirkt, zeigt weiche, verletzliche Seiten. Das Gefängnispersonal hingegen, das routiniert mit Situationen wie dieser umgehen sollte, offenbart einen völligen Kontrollverlust.

Sicherlich ist die Darstellung der Häftlinge als primitiver, pöbelnder, dem Gruppenzwang völlig unterworfener Haufen etwas übertrieben. Aber der Film gewinnt an Tiefe durch das eigenwillige Verhältnis zwischen Juan und Malamadre, die – so verschieden sie auch sind – doch einige Ideale teilen. Erstaunlich ist auch: Die Häftlinge verlangen nicht ihre Freilassung. Stattdessen fordern sie bessere Haftbedingungen, was nur menschlich ist.

Daniel Monzón hat einen Gefängnisfilm gedreht, der einen mit seiner spannenden Handlung mitzieht. Die Atmosphäre des Films ist stets am Brodeln, unterbrochen nur durch ein paar romantische Rückblenden zum Liebesleben zwischen Juan und seiner Frau Elena. Der Zuschauer fiebert mit, ob Juan entdeckt wird oder ob er es schaffen kann, seiner Situation zu entfliehen.

Manche Aktionen von Juan, die er im Affekt begeht, werfen die Frage auf, ob diese weiterhin nur Teil seiner Rolle als Gangster sind oder ob er sich nicht immer mehr mit seinen Knastbrüdern identifiziert. Währenddessen werden Gefängnisbeamte und Polizisten zu kaltblütigen Tätern. Wer in dem Gemisch aus Gewalt und Gegengewalt der Vernünftigere ist, wird verwischt. Wer starke Nerven hat, kann mit „Celda 211“ einen pulstreibenden Filmabend verbringen.

Celda 211

Titel (dt.): Zelle 211 – Der Knastaufstand / Cell 211

Regisseur: Daniel Monzón

Produktion: Spanien, 2009

Genre: Thriller

Länge: 107 min.

Der Tag vor seinem Amtsantritt als Wärter in einem baskischen Hochsicherheitsgefängnis wird für den 33-jährigen Juan Oliver zum Verhängnis: Eigentlich will er sich nur einen ersten Überblick verschaffen. Doch dann kommt es zu einem Zwischenfall, und Juan bleibt schwer verletzt in der Zelle 211 des Gefängnisses liegen.

Währenddessen gerät ein riesiger Gefängnisaufstand ins Rollen. Juan weiß: Wenn er am Leben bleiben und seine hochschwangere Frau Elena wiedersehen möchte, muss er sich selbst als Gefängnisinsasse ausgeben und vor allem das Vertrauen des unangefochtenen Rädelsführers „Malamadre“ gewinnen. Der Aufstand eskaliert, und für Juan verschwimmen die Grenzen zwischen Gut und Böse.

Der Film beruht auf dem gleichnamigen Buch von Francisco Pérez Gandul. Er hat acht Goyas (sozusagen die spanischen Oscars) gewonnen, inklusive für den besten Film und das beste Drehbuch.

Erhältlich bei Amazon als DVD auf Spanisch und Deutsch mit deutschen Untertiteln, oder im Falle einer Mitgliedschaft bei Prime Video als Stream auf Deutsch.

Verano 1993 (Filmkritik)

Es gibt kaum ein schlimmeres Ereignis, als seine Eltern im frühen Kindesalter zu verlieren. Von einem auf den anderen Tag sind die Bezugspersonen weg, die vorher das eigene Überleben garantiert haben. Die Menschen, die einem zum ersten Mal ein Gefühl von enger Bindung und Liebe vermitteln. Wie soll das Leben danach weitergehen?

Dieses Thema greift der vielfach prämierte autobiografische Film „Estiu 1993“ (span.: Verano 1993, dt.: Sommer 1993) auf. Die Eltern der sechsjährigen Hauptprotagonistin Frida sterben an AIDS. Sie wird adoptiert von ihrer Tante und deren Partner, die sich alle Mühe mit ihr geben, jedoch Schwierigkeiten haben mit den wechselnden Launen des traumatisierten Kindes.

Teilweise scheint Frida wieder neue Lebenslust zu gewinnen, etwa wenn sie mit ihrer dreijährigen Stiefschwester Anna Quatsch macht oder mit ihrem Stiefvater tanzt. Die neu aufgebaute Familienwelt scheint für ein paar Momente heil zu sein, bis Frida durch leichtsinnige Aktionen und sogar einen Fluchtversuch wieder zeigt, dass sie mit der neuen Situation noch nicht zurechtkommt.

So rückt zusätzlich zu Fridas Geschichte auch ein anderer Aspekt ins Blickfeld: Wie ist es für ein Paar, wenn es plötzlich eine Stieftochter hat? Kann man sie wie die eigene Tochter lieben? Muss man für ihre gelegentlichen Ausfälle angesichts ihrer schwierigen Situation Verständnis zeigen? In vielen Situationen sind die Stiefeltern damit überfordert, in Fridas Erziehung das Gleichgewicht zwischen Liebe und Strenge zu finden.

Insgesamt liegt der Fokus aber voll auf Frida, deren Alltag über den ganzen Film hinweg verfolgt wird. Ihre Emotionen reichen von einer tiefen Melancholie bis zu einer wiederentdeckten Freude am Leben. Darstellerin Laia Artigas verleiht dem Mädchen eine trotz der vereinzelten „kindischen“ Ausfälle erstaunliche Präsenz und Reife.

Der Film plätschert zwar durch seinen filmuntypischen Aufbau (Aneinanderreihung von Alltagsszenen statt Hinarbeiten auf Spannungspunkte) zeitweise etwas vor sich hin. Sehenswert ist er aber dennoch, weil er die vertrackte Situation nah an den Charakteren und glaubhaft begleitet. Frida und ihre neue Familie zeigen, dass man die Scherben aus der Vergangenheit nicht einfach wegkehren kann, dass das Leben aber weitergeht – mit neuen Herausforderungen, neuen Hoffnungen und neuer Lebensfreude.

Verano 1993

Originaltitel (katalan.): Estiu 1993

Titel (dt.): Sommer 1993

Regisseurin: Carla Simón

Produktion: Spanien, 2017

Genre: Drama

Länge: 97 min.

Der auf katalanisch gedrehte Film „Verano 1993“ wurde auf zahlreichen Festivals, u.a. der Berlinale 2017, prämiert und als spanischer Beitrag für den besten fremdsprachigen Film bei den Oscars 2018 vorgeschlagen, kam aber nicht in die Endauswahl. Regisseurin Carla Simón (*1986) verarbeitet in dem Film ihre eigene Biografie: Mit sechs Jahren verlor sie ihre Eltern und wuchs bei einer Adoptivfamilie auf.

Diese Geschichte erzählt sie in „Verano 1993“ nach – in Form des Mädchens Frida, das nach dem Verlust ihrer Eltern von Barcelona aufs Land zu ihrer Tante und deren Familie zieht. In jenem Sommer entdeckt Frida das Leben neu für sich, mit allen Höhen und Tiefen: Sie bereichert ihre neue Familie mit ihrer Kreativität, bringt sie aber auch durch diverse Leichtsinnigkeiten in schwierige Situationen.

Erhältlich bei Amazon auf Katalanisch und Spanisch mit spanischen und englischen Untertiteln.

El sur (Filmkritik)

„El sur“ ist kein ganz gewöhnlicher Film: Er missachtet das eherne Gesetz, wie ein Spannungsbogen in einem Spielfilm abzulaufen hat. Statt ständiger Aufs und Abs wirkt die Heldenreise der jungen Hauptfigur Estrella auf den Spuren ihres Vaters eher wie ein Vorantasten. Damit ist der Film dem wirklichen Leben näher als die zahlreichen optisch aufgehübschten Filme der Neuzeit.

Natürlich macht der Film damit wie auch mit seiner altmodisch-konservativen Kameraführung stellenweise eher einen zähen Eindruck. Aber man fiebert mit Estrella mit, dass sie das alte Geheimnis ihres Vaters lüftet. Als sie ihn gegen Ende damit konfrontiert, wahrt er wie immer den Schein und gibt sich souverän, zeigt aber dann doch, wie ihn das ungelöste Problem aus seiner Vergangenheit belastet.

Das Ende des Filmes ist zwiespältig: traurig und hoffnungsvoll zugleich. Die große Wahrheit, was wirklich geschah, bleibt im Unklaren. Das mag für den Filmzuschauer, der gerne alle Zusammenhänge erklärt haben würde, ungewohnt sein.

Aber „El sur“ wurde eben nicht fertig, nachdem er in Cannes bereits unvollständig gezeigt wurde. Damit waren die Produzenten zufrieden und ließen Victor Erice seinen Film nicht beenden. Zur vollständigen Aufklärung gibt es da aber noch die Erzählung von Adelaide García Morales, auf der der Film basiert. (tve)

El sur

Dt. Titel: El Sur – Der Süden

Regisseur: Victor Erice

Produktion: Spanien, 1983

Genre: Drama

Länge: 91 min.

„El Sur“, mit mehreren Auszeichnungen prämiert, erzählt von einem Mädchen, das im Norden Spaniens lebt und eine Faszination für dessen Süden entwickelt. Grund ist ihr Vater, der seit einiger Zeit ein Geheimnis mit sich trägt, dem das Mädchen allmählich auf die Schliche kommt. Der Film wurde nie fertiggestellt und ist dennoch ein Kinojuwel.

Erhältlich bei Amazon auf Spanisch mit englischen Untertiteln und bei trigon-film auf Spanisch mit deutschen Untertiteln (längere Versandzeit möglich).